Dominic Blumenthal, Projektleiter beim Städteverband, teilt in diesem Beitrag ein paar seiner Beobachtungen und Gedanken zur Quartierentwicklung in Corona-Zeiten nach einem aussergewöhnlichen ersten Jahr als Leiter des Netzwerks Lebendige Quartiere.
Urbane Quartiere leben von Begegnungen. Die Corona-Pandemie war diesbezüglich Gift für die gewohnte Art der Begegnungen. Ein Teil davon verlagerte sich wenigstens teilweise in die digitale Welt. Das Potential der digitalen Begegnungsorte zeigt sich beispielsweise bei der Organisation der Nachbarschaftshilfe, die in der Pandemie massiv an Bedeutung gewann.
Die Plattform www.hilf-jetzt.ch verbindet seit dem Pandemieausbruch im März 2020 Hilfesuchende mit Helfenden. Die angebotenen Unterstützungsleistungen sind vielfältig und reichen von psychologischer Unterstützung bis hin zur Nachbarschafts- und Einkaufshilfe. Und die Plattform ist ein Erfolg: Gemäss Zahlen des Schweizerischen Roten Kreuzes, welches das aus der Zivilgesellschaft geborene Projekt ab August 2020 übernommen hat, waren auf der Plattform im ersten Jahr bis zu 200‘000 Freiwillige eingetragen, die mehr als 100‘000 Hilfesuchende unterstützen konnten.
Auch die Stadt Winterthur setzt in der Krise auf digitale Mittel. «Quartierleben Neuhegi» ist eine interaktive digitale Community-Plattform, die als App verfügbar ist. Die Quartierbewohnerinnen und -bewohner können sich mit einem Klick über Neuigkeiten und Anlässe im Quartier informieren, über das Diskussionsforum Ideen für die Gestaltung von Parkanlagen und Freizeitangeboten einbringen oder Themen rund um das Quartier diskutieren und über die Pinnwand Gegenstände oder Dienstleistungen untereinander anbieten oder nachfragen. Die Plattform soll das Quartierleben fördern, indem sie den Austausch, die Partizipation sowie die Nutzung lokaler Angebote und Aktivitäten unterstützt. Langfristig kann sie somit zur Stärkung des Gemeinschaftssinns und schliesslich zur Erhöhung der Lebensqualität beitragen. Mit dem Shutdown im März 2020 verzeichnete die digitale Quartierplattform einen sprunghaften Anstieg an Klicks und Einträgen im Bereich Nachbarschaftshilfe. Um diesem Bedürfnis zu entsprechen, wurde für die gesamte Stadt Winterthur das Modul «Corona-Nachbarschaftshilfe» lanciert, über das die Bewohnerinnen und Bewohner Hilfsangebote platzieren oder nachfragen können. Das Modul stiess auf Anklang. Mehrfach wurde der Wunsch geäussert, es beizubehalten und auf verschiedene Quartiere zu auszuweiten.
Solidarität unter den Generationen
Zum einen entstand durch die Verlagerung eines Teils des Quartierlebens in den digitalen Raum viel Solidarität. In den digitalen Begegnungsorten kamen sich Jung und Alt näher, wie das in der realen Welt womöglich weniger der Fall war. Zum anderen zeigte die Pandemie aber auch ein Spannungspotenzial zwischen den Generationen, das sich ebenfalls im Quartier äusserte. Die Hochschule für Soziale Arbeit Wallis untersuchte die Auswirkungen der Covid-19-Pandemie auf das Verhältnis zwischen den Generationen. Für das Projekt wurden 17 Personen zwischen 17 und 80 Jahren zu ihren Erfahrungen mit unterschiedlichen Hilfsmassnahmen persönlich interviewt, die in einem Dokumentarfilm verarbeitet wurden.
Die Forscherinnen und Forscher beobachteten ein breite Palette an generationenübergreifenden Hilfsangeboten auf Quartierebene, sowohl im institutionellen wie auch im privaten Rahmen. Die generationenübergreifende Solidarität ist je nach Wohnregion und den bereits bestehenden Netzwerken unterschiedlich ausgeprägt und organisiert: Insbesondere in Bergregionen wird die Solidarität zwischen den Generationen und der Familienzusammenhalt auf alte Traditionen zurückgeführt. Familien wohnen nahe beieinander und helfen sich gegenseitig, beispielsweise beim Erledigen der Einkäufe. In der Stadt wird eher auf institutionell organisierte Hilfe im Quartier zurückgegriffen. Nebst vielen praktischen Herausforderungen in der Vermittlung und Durchführung der Nachbarschaftshilfe haben sich durch die Pandemie auch Chancen ergeben. Viele Personen hatten aufgrund der Umstellung auf Homeoffice mehr Zeit, auch für die Freiwilligenarbeit. Nicht zuletzt hat der (ausserfamiliäre) Austausch zwischen den Generationen zugenommen und Vorurteile konnten damit abgebaut werden. Wie die Corona-Pandemie das Zusammenleben in der Nachbarschaft mittel- und langfristig verändern wird, ist gemäss den Studienautorinnen schwierig vorherzusagen. Die Einführung von flexibleren Arbeitsmodellen wird das Verhältnis zwischen den Generationen durch den zu erwarteten, intensiveren Kontakt weiter prägen. Von zentraler Bedeutung für die Aufrechterhaltung des intergenerationellen Austauschs sind – auch nach der Krise – Begegnungsorte im Quartier.
Leben kehrt ins Quartier zurück
Mit mehr Homeoffice kehrt das Leben zurück ins Quartier. Personen, die von Zuhause aus arbeiten, verbringen dort mehr Zeit, nicht nur für freiwilliges Engagement in der Nachbarschaft. Sie erledigen auch öfter ihren Einkauf im Quartierladen und erholen sich im Park vor der Haustür oder mit einem Spaziergang in der Umgebung.
Dank Homeoffice erhöht sich der Umsatz in den Quartieren – zu diesem Schluss kommt auch eine Auswertung der Zürcher Kantonalbank ZKB, welche die Umsatzzahlen ihrer Geschäftskunden ausgewertet hat (s. www.srf.ch) . Die Analyse zeigt, dass in den typischen Wohnregionen der Umsatz häufig mehr als doppelt so hoch ist wie im Vorjahr, während an zentralen Lagen die Umsätze eingebrochen sind. Ein Trend zu lokalen Produkten und Läden sei jedoch auch in der Innerstadt spürbar. Die Ladenbesitzerinnen und -besitzer in den Quartieren erkennen noch eine weitere Entwicklung in der Corona-Zeit Kundinnen und Kunden drücken mit dem Besuch in ihrem Laden ihre Solidarität aus. Sie erhoffen sich natürlich, dass diese Solidarität auch nach Corona anhält.
Die Corona-Pandemie zeigt uns ebenfalls, wie wichtig die eigene Umgebung als Naherholungsraum sein kann. Die Neuentdeckung der eigenen Nachbarschaft für die Freizeitgestaltung liegt erzwungenermassen im Trend: Auch der Wochenendausflug in der direkten Umgebung bringt Vorteile mit sich, insbesondere für die Umwelt. Die Mobilität nimmt in der Pandemie nicht nur unter der Woche ab, auch die Freizeitmobilität verringert sich. Damit die Nachbarschaft attraktiv ist für die Freizeitgestaltung seiner Bewohnenden, ist genügend hochwertiger Frei- und Grünraum eine zentrale Voraussetzung. Die Erhaltung und Schaffung dieser Freiräume ist zentral für die Lebensqualität und stellt angesichts der baulich immer weiter zu verdichtenden Städten eine zentrale Herausforderung für die Raumentwicklung dar. Eine vielfältige Nutzung des öffentlichen Raums kann ein Schlüssel dazu sein, wobei die Förderung des Langsamverkehrs und von kurzen Wegen einen wichtigen Beitrag leisten können. Wenn Wohnen, Einkaufen und Arbeiten nahe beieinanderliegen, bedeutet dies eine Entlastung für den Raum, die Gesundheit und die Umwelt.
Was bleibt davon? Konturen des Quartiers nach Corona
Die Pandemie hat uns in vielen Bereichen gezeigt, was in unserer Gesellschaft gut läuft, aber auch wo wir nachjustieren müssen. Dies gilt auch für die Quartiere.
Die Einführung und weitere Verbreitung von Homeoffice schafft mehr Zeit für das Leben im Quartier. Zeit wird frei für freiwilliges Engagement, wobei die gemachten Solidaritätserfahrungen die Generationenbeziehungen intensivieren. Von zentraler Bedeutung für die Aufrechterhaltung dieses generationenübergreifenden Austausches und Dialogs sind lokale Begegnungsorte, auch ausserhalb des digitalen Raums. Mehr Zeit bleibt auch für Konsum und Erholung in Wohnnähe – im Idealfall auch nach der Pandemie. Inwiefern diese neuen Lebensmuster langfristig anhalten, wird sich noch zeigen müssen. Eine mittelfristige Verschiebung des Lebensmittelpunkts auf die Nachbarschaft scheint angesichts der aufgezeigten Entwicklungen durchaus denkbar und hat ihren Reiz, auch als Mittel gegen den Klimawandel. Denn wer sich mehrheitlich im Quartier aufhält und lokal konsumiert, verringert seinen ökologischen Fussabdruck.
Der Demographische Wandel schreitet unterdessen weiter voran. Für künftige Pandemien wird mit der zunehmend älteren Bevölkerung die Anzahl besonders anfälliger Personen steigen, während die Zahl der «Unterstützenden» verhältnismässig sinken wird. Umso wichtiger ist es, die bestehenden Ressourcen – seien das Menschen, Ideen oder Finanzen – zu bündeln und sinnvoll einzusetzen, gerade auf Quartierebene. Soziale Organisationen sollten die bestehenden Ressourcen gemeinsam absprechen und nutzen, ohne sich gegenseitig abzugrenzen. Schliesslich können gerade digitale Plattformen bei der Koordination der Aktivitäten von Kirche, Staat und Zivilgesellschaft im Quartier hilfreich sein. Der aktuelle Digitalisierungsschub treibt die Vernetzung voran und schafft – so wenigstens die Hoffnung – nachhaltige und belastbare lokale Netzwerke.
Die Quartiere können durch Corona solidarischer, lebendiger und nachhaltiger werden. Das Lokale und damit auch das Quartier gewinnen an Bedeutung. Das in diesem Beitrag skizzierte Bild entspricht einem optimistischen Szenario. Ob die in der Krise entfachten Solidarität (unter den Generationen) anhält, ist ebenso ungewiss wie die erhofften positiven Auswirkungen auf das Quartierleben durch den räumlichen Wandel in der Arbeitswelt. In der Krise wurde jedoch deutlich, wie wichtig das unmittelbare Umfeld, das eigene Quartier und damit auch die Quartierarbeit ist. Die Pandemie hat auch sehr deutlich gezeigt, welche Bedeutung funktionierende Nachbarschaften für den Zusammenhalt der Gesellschaft haben. Quartiere sind deshalb zentral für eine nachhaltige Stadtplanung. Sie sind nämlich Ausgang und Grundlage des bürgerlichen Engagements und für die Resilienz von Städten unverzichtbar. Aber nicht nur das, Quartiere sind auch Labore für die urbane Zukunft. Denn hier können wir in kleinem Rahmen ausprobieren, was später im Grossen funktionieren soll.
Quelle: Schweizerischer Städteverband