Die Sonnenuhr und die Zeitumstellung

Sonnenuhr 1926 Leibacher Fassade Schwärzi Weinfelden Wyfelder

«Fundstücke aus der Weinfelder Geschichte und Kultur» - Nr. 7

Die Umstellung auf Sommerzeit ist seit ihrer Einführung nicht unumstritten. Die Sonnenuhr hat das noch nie interessiert. Nicht einmal, dass wir 2021 ein kleines «Jubiläum» feiern und die Umstellung 1981 ein kleines Kuriosum beendete, das auch in Weinfelden täglich Auswirkungen hatte.

Auf 1:59 Uhr folgt 3:00 Uhr: Der Moment, in welchem alle Uhrzeiger (oder die Digitalanzeige) um eine Stunde nach vorn gestellt werden, hat irgendwie etwas Faszinierendes. Ähnlich wie beim Blick auf die SBB-Bahnhofsuhren, wenn der Sekundenzeiger für eineinhalb Sekunden auf der 12 pausiert und erst weiterläuft, wenn der Minutenzeiger gesprungen ist: Die Zeit ist nicht stehen geblieben.

Am 28. März 2021 ist es wieder soweit. Seit genau 40 Jahren stellen wir in der Schweiz die Uhren am letzten Sonntag im März auf Sommerzeit. Für ein Jahr waren wir zuvor eine «Zeitinsel», als unsere Nachbarstaaten 1980 die Sommerzeit definitiv eingeführt hatten. 1978 hatte das Schweizer Volk wuchtig mit 83,8 Prozent dagegen votiert.

Dadurch entstand im Grenzgebiet eine besondere Situation, die wir auch in Weinfelden spüren konnten. Zum Beispiel, da wir einen internationalen Bahnanschluss haben. – Fuhr ein Zug in Konstanz los, kam er – so auf dem Fahrplan ersichtlich – in Weinfelden in der Vergangenheit an. Und in umgekehrter Richtung hiess es: «Zurück in die Zukunft» …

Vor 40 Jahren änderte der Bundesrat – auch auf Druck der Eisenbahnen – das und setzte 1981 in der Schweiz die Einführung der Sommerzeit durch. Eine Volksinitiative zur Abschaffung, die kurz darauf lanciert wurde, kam nicht zustande. Seither werden im März die Uhren vor, im Oktober (bis 1996 im September) wieder auf Normalzeit zurückgestellt. Und die Zeit ist unterdessen weitergelaufen.

Würde man auf der ganzen Welt die Uhren anhalten, die Zeit würde dennoch nicht stehen bleiben. Die Frage, was Zeit ist, ob es sie überhaupt gibt oder doch nur eine Erfindung des Menschen ist, führt in die unendlichen Weiten der Mystik, Philosophie, Theologie und der Physik. Verschiedene Kulturen in der Geschichte würden die Fragen unterschiedlich beantworten: Zeit als (ewiger) Kreislauf oder Zeit als lineare Grösse, aus welcher der Glaube an den Fortschritt geboren ist.

Die Zeitumstellung erfolgt nachts; die meisten schlafen, und die Eisenbahn findet ihre Lösungen. Aber was geschieht am Tag? Da gibt es Uhren, die man nicht so einfach umstellen kann, wenn sie denn nicht extra Anschriften aufweisen: die Sonnenuhren. Ein Spaziergang zur «Schwärzi», zum heutigen Fundstück, wo auf der ältesten Sonnenuhr Weinfeldens täglich der Schatten über römische Ziffern wandert, lässt uns über Zeit nachdenken.

Die Zeiten ändern sich und wir uns in ihnen, sagten die alten Römer. Ob man Uhren verstellt oder nicht. Die Zeiten bringen oft viele Umstellungen, Veränderungen sind unabänderlich Teil des Lebens. Nicht alle sind erfreulich, wie für manche die jährliche Umstellung auf Sommerzeit. «Mach es wie die Sonnenuhr, zähl die heiteren Stunden nur», lautet ein bekannter Ratschlag, um diese und andere Herausforderungen leichter meistern zu können. Und was sagt uns der Blick auf unsere Sonnenuhr, die ein Maler J. Leibacher 1926 auf die Fassade des damals von Familie Gideon bewohnten Hauses malte?

Etwas aus der Zeit gefallen und doch attraktiv wirken heute diese Uhren. Wer ist nicht schon zum Uhrenvergleich davorgestanden oder hat versucht zu verstehen, was die Uhr eigentlich genau anzeigt. Was auf den ersten Blick so simpel wirkt, ist es in Wirklichkeit nämlich nicht; hinter den verschiedenen Typen und Funktionsprinzipien versteckt sich eine eigene Wissenschaft und es braucht einiges an Mathematik und Verständnis von Himmelsmechanik, um eine Uhr am jeweiligen Ort richtig auszurichten. Darüber ist an dieser Stelle nicht weiter nachzudenken. Aber im Nachschlagewerk von Fritz Zurbuchen über die Thurgauer Sonnenuhren ist zu lesen, dass der Stab (es handelt sich um eine sogenannte Polstab-Uhr) offenbar nicht genau so steht, wie er sollte; er müsste in der sogenannten Meridianebene liegen. Dazu sei auch noch das Zifferblatt ungenau.

Ob das nun heisst, die «Schwärzi»-Sonnenuhr «laufe» ungenau, sei dahingestellt. Der Blick an die Fassade des über 470 Jahre alten Gebäudes kann dennoch nachdenklich stimmen. Wie war das mit den heiteren Stunden? Da steht doch etwas ganz anderes: «Der Schatten weicht zurück zur Stundt, die uns der Tod wird machen kundt.» Und damit nicht genug: Auch der kleine Totenkopf erinnert daran, dass die Lebenszeit begrenzt ist.

Ist man da nicht froh, wenn die Uhr nicht so genau läuft? Seit der Umstellung im Sommer und im Winter wissen wir ohnehin nie so recht, wie gross das verbliebene Stundenkonto noch ist; aber kümmert es uns im Alltag? Solche und ähnliche Sprüche wie in Weinfelden sind auf Sonnenuhren verbreitet. Diese haben heute ja auch kaum mehr die Funktion, wirklich über die genaue Zeit zu informieren. Wer schaut schon auf die Sonnenuhr, wenn er in einem auf die Minute getakteten Tagesablauf auf den Zug rennt. Aber ein bisschen mahnen, dafür muss wohl Zeit sein: Während heutzutage die Zeit voranschreitet, also linear verläuft, erinnert die Sonnenuhr aus der Antike raunend daran, dass es auch die Kreisläufe gibt. Von Sonnenauf- bis Sonnenuntergang wandert der Schatten über die Ziffern. Jeden Tag, unbeirrt und immer wieder von Neuem, so es denn Sonnenschein hat. Und sie erinnert daran, dass Zeit auch eine relative Grösse ist: Die Sonnenuhr zeigt nur die wahre Ortszeit an.

Anderes gibt heute den Takt an und vor, sagt, was Zeit ist. – Zeit wird gemacht: Präzise Atomuhren geben den Sekundenimpuls vor. Zeit ist eine der Grössen, die man heute am Genauesten messen kann und ist seither harte Währung geworden. Zeit ist Geld. Keine Zeit zu haben, ist modern geworden.

Die digitale Revolution, in der wir uns heute befinden, unsere Sammelwut von Daten und Informationen, all das fusst letztlich auf der Annahme, das Leben, die ganze Natur liesse sich analysieren (in Stücke unterteilen, was das Wort bedeutet) und damit mess- und beherrschbar machen (R. Yogeshwar). Die Erfindung der mechanischen Uhr hat dieses Zeitalter eingeläutet, ihr Herzschlag wurde zum Motor besagten Fortschritts. Das Kontinuum der Zeit, die ewigen Kreisläufe wurden zu einem Strang des Fortschritts gedehnt und in immer kleinere Teile zerstückelt. Der Terminkalender, die Bahnhofsuhr, die Hundertstelsekunde im Sport … 

Einst genügten unscharfe Begriffe wie Dämmerung, Einbruch der Nacht, Mittag und Mitternacht. Das war die Zeit der Sonnenuhr. War es einst ein Bedürfnis, Zeit zu messen, um sich nach ihr zu orientieren, bestimmen unterdessen längst mobil und hochpräzis gewordene Uhren unser Leben. Ein Gerät, das der Mensch immer bei sich trägt.

Der Blick zur Sonnenuhr, die mahnt, dass es ein heranrückendes Ende gibt, das die Kreisläufe unterbricht, ob wir nun nach vorwärtsrennen oder nicht, lässt innehalten. Dabei geht es nicht nur um den Tod – der Totenkopf und der Spruch auf der «Schwärzi»-Uhr erinnern an Mittelalter und vor allem Barock, als das «memento mori» (Gedenke des Todes) überall präsent war angesichts von Seuchen, Kriegen und Hungersnöten. In Corona-Zeiten werden wir uns vielleicht vielem wieder bewusster. Es geht auch darum, dass das Leben kostbar ist und wir uns überlegen dürfen, was wesentlich ist und ob sich das Leben wirklich auf eine reine Zahlenwelt übertragen lässt. Technische Neuerungen verändern Mensch und Gesellschaft, aber auch unsere Selbstsicht. Es liegt an uns, ob wir in einer zunehmend digitalen Welt den Fortschritt als Getriebene oder als Gestalter erleben wollen.

Was macht es also schon, wenn die Sonnenuhr nicht ganz so präzis, dafür umso schöner ist. Ich kann mich nicht mehr an die Verwirrungen in der Mittel-Thurgau-Bahn bei einer Fahrt von Konstanz Richtung Weinfelden erinnern; als Vierjähriger war Zeit eine ganz andere Erfahrung. Heute würde ich sagen: Wenn ein Zug in der Vergangenheit ankommt, hat man ja auf der Fahrt vielleicht Chance und Zeit, etwas aufzuholen, was man beim Rennen auf den Zug verpasst hat; besser wäre es, den Fahrplan in der Gegenwart achtsamer zu gestalten.

Ausschnitt Zurbuchen Sonnenuhr 1926 Leibacher Fassade Schwärzi Weinfelden Wyfelder
Die Angaben aus Fritz Zurbuchens Inventar, S. 111. Aus dem Breitengrad des Ortes (47° für Weinfelden) kann berechnet werden, in welchem Winkel der Polstab bei einer vertikalen Uhr nach unten zeigen muss (Winkel zum Horizont, also 43°). Die Merdianebene bildet sich aus Erdrotationsachse und dem Beobachter-Punkt auf der Erde, die Linie auf der Kugel ist entsprechend der Meridian. Mittags steht die Sonne an ihrem höchsten Stand über dieser Linie, entsprechend muss der Stab in dieser Ebene liegen. Das Azimut ist die Neigung der Ebene des Zifferblatts (der Fassade) gegen den Meridian. Die Südfassade der «Schwärzi» ist also nicht genau auf einer Linie Ost-West; auch das gilt es beim Malen des Zifferblatts auszugleichen.

Beitragsbild oben: Die Sonnenuhr (1926, Leibacher) auf der Fassade der «Schwärzi». Foto: M. Mente

28.3.2021

Literatur:
Fritz Zurbuchen. Sonnenuhren im Thurgau. Mit Fotografien von Fritz Büchi. Frauenfeld, Gachnang, 2020.

• Über die Geschichte, Funktionsweise, das Bauen und Berechnen von Sonnenuhren:
Nüesch-Sigrist, P. Sonnenuhren: eine praktische Anleitung zu deren Konstruktion = Le cadran solaire: explication des figures. In: Heimatschutz = Patrimoine, 14, 1919, S. 73 ff.
(online: https://www.e-periodica.ch/cntmng?pid=hei-001:1919:14::274).

Willimann, Louis-Sepp: Einführung in die Sonnenuhrenlehre. Grundwissen für angehende Sonnenuhrenmacher. Skript ohne Ort und Datum
(online: http://louis-sepp.ch/Sonnenuhrenmacher.pdf).

• Geschichte der Sommerzeit in der Schweiz:
https://www.srf.ch/meteo/meteo-stories/ab-sonntag-sommerzeit-40-jahre-sommerzeit-in-der-schweiz

Wie funktioniert die SBB-Bahnhofs-Uhr:
https://news.sbb.ch/artikel/82722/der-zeit-voraus

Zum Weiterdenken: 
Ranga Yogeshwar. Nächste Ausfahrt Zukunft. Geschichten aus einer Welt im Wandel. Köln 2019.

michael mente weinfelden wyfelder thurgau

Michael Mente – ist Historiker, Archivar, Autor verschiedener Bücher und Beiträge und arbeitet derzeit in der Denkmalpflege des Kantons Thurgau. Er ist in Weinfelden aufgewachsen und schreibt für den Wyfelder seit Start. In der Reihe «Fundstücke aus der Weinfelder Geschichte und Kultur» erzählt er uns zudem in loser Reihenfolge durch «sein» Weinfelden spazierend von unserem Städtchen.

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