Das mühsam gesuchte Brot

Das mühsam gesuchte Brot Weinfelden wyfelder

27.5.2021 – Heute vor 250 Jahren sind halbverhungerte Weinfelder nach Bellinzona aufgebrochen, haben dort je einen Sack Weizen gekauft und zurück über die Alpen nach Weinfelden getragen.

 

„Das jämmerliche Geschrey der Kinderen um Brodt, die thränenden armen Elteren, die nichts hatten, ihre Kinder zu laben, das entsetzliche Geläuff der armen Allmosenbittenden auf den Gassen, ihr Wehklagen und Seufzen, ihr erbärmliches Anhalten um Nahrung, besonders derjenigen, die in den Häusseren der Becken und Mülleren auf eine wehmüthige Weise um die Kleyen [Gereitehülsen] anhielten, samt den tödlichen Krankheiten, die von dem Mangel der Nahrung entstanden, sind so viele und überzeugende Beweissthümmer der kläglichen Folgen der Hungersnot, die nach lang angehaltenem nassem Wetter und daher entstandenem Misswachs nach und nach angewachsen und eingeschlichen. So dass viele Menschen sich mit Kräuteren und Wurzlen nehren müssten.“ (nach einer kurzen Beschreibung der Hungersnot 1769 – 1771, von Johann Heinrich Reinhard; Bürgerarchiv Weinfelden)

Unsere Vorfahren wurden oft von schrecklichen Hungersnöten heimgesucht. Bekannt sind namentlich die Hungerjahre 1817 und 1771. Ein bis zwei Missjahre genügten, um die Not aufs höchste steigen zu lassen. Die wenigen Vorräte waren bald aufgebraucht. Die Einfuhr vom Ausland war bei den schlechten Verkehrswegen ungenügend oder gar gesperrt, weil dort selbst Mangel herrschte.

Der beängstigende Fruchtmangel veranlasste deshalb Behörden, sich das Korn durch Träger aus Oberitalien zu beschaffen. Eines der schönsten Beispiele dieser beschwerlichen Getreidebeschaffung ist uns glücklicherweise in einer kleinen Druckschrift erhalten geblieben. Auf Begehren guter Freunde gaben nämlich die beiden Hauptbeteiligten einer solchen Einkaufsreise, Hans Jakob Schweizer, Krämer, und Joseph Bornhauser, beide von Weinfelden, im Jahre 1775 eine genaue Beschreibung ihrer Reiseerlebnisse heraus, betitelt: „Das mühsam gesuchte Brodt“.

Die Reiseroute
Die Reise der 10 mutigen Männer begann Montag, den 27. Mai 1771. Sie schlugen von Weinfelden aus den kürzesten Weg nach dem Gotthard ein. Über Fischingen, Hörnlyberg (Hörnli), Fischenthal, Rieth (Ried bei Gibswil), Rapperschweil (Rapperswil) erreichten sie Horden (Hurden am Zürichsee).

 

Das mühsam gesuchte Brot 1771 Weinfelden wyfelder

Am 2. Tag (28. Mai) reisten sie über Altmat (Altmatt, zwischen Biberbrücke und Rothenthrm), neben Schweitz (Schwyz) vorbei nach Brunnen. Dann gings mit dem Schiff über den Urnersee nach Flüehlelen (Flüelen). Ueber Altorff (Altdorf) seien sie nach Kantersteg gekommen. Auch hier liege ein Irrtum vor; es sollte natürlich Amsteg heissen.

Am 3. Tag (29. Mai) gings über Wasen (Wassen), Urselen (Andermatt, früher vielfach Urseren genannt), Hospithal (Hospenthal, vom lat. hospitaculum = Herberge, Spital) auf den Gotthardsberg) (San Gottardo, Sankt Gotthard). Ueber Eriel (Airolo, deutsch Eriels) erreichten sie die Zollbrugg (Zollbrücke des Standes Uri, am Eingange der Piottino-Schlucht [Dazio Grande]) im Levinerthal (Valle Leventina, Livinental).

Am 4. Tag (30. Mai) langten sie über Lint (?) an ihrem Reiseziel Bellenz (Bellinzona) an. Hier fanden die unermüdlichen Wanderer Nachtherberge im Wirtshaus zur Schlange.

Schon tags darauf, am 31. Mai, traten sie schwer beladen den Rückweg an. Die Etappen der Rückreise sind bedeutend kürzer. In Camj (Cama) wurde das erstemal übernachtet. Am 6. Tag (1. Juni) marschierten sie der Mosac (La Moësa) entlang über Lothstal (Lostallo), Mondsac (Mesocco, Misox) nach dem Dörflein Bernhardin (San Bernardino, Sankt Bernhardin). Am 7. Tag (2. Juni) überschritten sie den Bernhardinsberg und blieben in Hinter-Rhein (Hinterrhein) über Nacht.

Am 8. Tag (3. Juni) durchschritten sie das Rheinwald, und kamen über Splügen nach Suferz (Sufers), ins Samserthal (Schams) und nach Sylis (Zillis). Am 9. Tag (4. Juni) wanderten sie bis nach Reichenau. In Dusis (Thusis) ergiesse sich der Mittler-Rhein in den Hinter-Rhein, bemerkt der Bericht; in Thusis fliesst jedoch die Albula in den Hinterrhein. Jetzt gings (am 10. Tag. 5. Juni) über Chur, Ziserz (Zizers) und die beiden Zollbrücken (zuerst über die Landquart, dann über den Rhein). Am 11. Tag (6. Juni) erreichten sie über Ragatz (Ragaz) Werdenberg, und am 12. Tag (7. Juni) Rheinegg.

Von Stad (Staad bei Rorschach) aus fuhren sie mit dem Schiff bis ins Hörnlein (Hörnli, einstige Landungsstelle bei Kreuzlingen; das Schiff hielt wohl vorher nicht an) und langten am 13. Tag (8. Juni) über Schwaderloch (Schwaderloh) glücklich wieder im heimatlichen Orte Weinfelden an.

So sah man die Ursache für die Hungersnot
Nicht, dass der Misswachs die Urquell der Hungersnot seye; dann jeder vernünftige Christ, der eine wahre Prüffung bey sich selbsten anstellet, wird finden, dass unsere Sünden die Urquelle dieses Uebels verursachen; der schlechte Dienst, den man diesem unendlichen Wesen leistet, die Wiederspännigkeit gegen seine heilige Gebott und Willen, Ueppigkeit, Hoffart, Schwellgery, Undankbarkeit, Missbrauch seiner Gaaben, Müssiggeng usw. sind die haubtursachen dieser Straffen. Wurden wir in seinen Gebotten wandlen und seine Rechte halten und thun, so wurde der gütige Gott den Himmel nicht zu Ertz, und die Erden nicht zu Eysen machen; sondern Er wurde uns nur Regen geben zu seiner Zeit; die Bäume auf dem Feld wurden ihre Frucht bringen; die Dröschzeit wurde reichen bis zur Weinernd, und diese bis zur Saamenszeit, und wir wurden uns unsers Brodts satt essen können.

Wann wir die Heil. Schrift, als auch die Cronicken und Geschichtbücher zur Hand nehmen, so finden wir, dass der gerechte Gott, je zuweilen dieses oder jenes Land mit Misswachs, woraus Theurung und Hungersnot entstehet, heimgesuch hat. Zweiffels ohn, weil die Menschen seinen gütigen Segen missgebrauchet, denselben nicht mit Dankbarkeit genossen, sondern denselben, einerseits zum Geitz, theils aber auch zur Hoffart und Schwelgerey usw. verwendet; wordurch sie sich nicht nur dieses Segens unwürdig gemacht, sondern an dessen Statt sich den Fluch zugezogen, so dass dardurch die Feldarbeit verlohren, das Land sein Gewächs, und die Bäume und Weinstöcke ihre Frucht nicht gebracht; da dann der Stab des Brodts gebrochen, und der durch den Misswachs erzeugte Hunger als ein Feind des menschlichen Lebens, nach und nach eingeschlichen, welcher Noth, Jammer, Armuth, Mangel, Krankheiten und Tod verbreitet. Indessen hat der gütige Gott, welcher mitten im Zorn gnädig ist, niemals die ganze Welt ohne Brodt gelassen, sondern auch den Undankbaren seine Gnad und Güte von Ferne gezeiget, indem er seinen Segen etlichen Länderen mitgetheilet, so das die mit Hunger und Mangel geplagten, ihre Zuflucht etwelcher maassen dahin nehmen konnten.

Hat die Reise Gewinn gebracht?
Wir fragen uns noch, ob die beiden Unternehmer wohl einen finanziellen Gewinn machten. Trotz des niedrigen Einkaufspreises und der geringen Trägerkosten war dies nicht der Fall. Zölle und andere Unkosten verteuerten das Getreide. Zudem war der Fruchtpreis in ihrer Abwesenheit zur grossen Freude der hungernden Bevölkerung gefallen, von 9 auf 7 Gulden das Viertel. „So hatten sie zum Schaden an ihrer Gesundheit und zu den Beschwerlichkeiten der Reise noch Geldverlust. Nun, sie haben es überstanden, und durch ihr mühsam gesuchtes Brot die Nachkommen belehrt, wie hoch dasselbe zu schätzen und mit inniger Dankbarkeit zu geniessen sei.“

Der Reisebericht
Dann gleich wie man in der Gefahr des Lebens beten lehrnet, also lehrnet man auch in der Hungersnoth nach Brodt gehen. Wir sahen uns sitzend in einer so grossen Theurung, davon unsere Geschichtbücher niemals Meldung gethan. In dem sonst so kornreichen benachbarten Schwabenland war die Ausfuhr hoch verbotten, indem sie selbst Mangel an Getreyd hatten. In der benachbarten Stadt Constanz war das Pfundt Brodt auf 13 Kreuzer gestiegen; alle Hoffnung war verschwunden, dass in unserem Land vor der Ernd, Frucht zu kauffen, gefunden werden könnte.

Wir mussten also unsere Augen auf die Gräntzen Italiens richten, allwo der Pass offen, und ein grosser Vorrath vorhanden, auch in billichem Preiss zu bekommen wäre. Nur die weite Entfehrnung, beschwerliche und fast unbrauchbare Wege verursachten, dass die Frucht hier ins Land zu lifferen theur zu stehen kame.

Da nun Noth und Mangel sich immer vermehrete, begaben sich unerachtet aller Schwierigkeiten viele Einwohner aus unseren benachbarten Städten und Dörfferen auf die Reise, Frucht zu kauffen.

So dann beruffen wir Samstags, den 25. May, etliche brafe und starke Männer zusammen, als Korntrager, und befragten sie, ob sich jeder getraute, etwa 48 bis 50 Stund Wegs, eine Last von ongefehr 90 schwere Pfund zu tragen. Da sie nun meistens mit ja antworteten, sie wollen es mit Gottes Hülff wohl thun können, so vereinbarten wir mit ihnen 48 Kreuzer Traglohn (= etwa zwei Löhne eines Tageslöhners), woraus sie sich verkosten mussten; wir aber bezahlten Zölle und Schifflohn.

Die Nammen aber unserer Trageren sind nachstehende:

  • Hans Geörg Keller, im Spithal
  • Hans Jacob Koch, Tischmacher
  • Johannes Keller, im Breitenhard
  • Stephan Keller, Sattler
  • Johannes Keller, Tischmacher
  • Joseph Bischoff, im Breitenhard
  • Jacob Dünner, im Breitenhard
  • Johannes Reinhardt, Glaser
  • Hans Ulrich Keller, Schuhmacher.
  • Joseph Bornhauser, Beck
  • Hans Jakob Schweizer, Krämer

Text: Urs Keller, Sekundarlehrer Pestalozzi Weinfelden
Quellen: Bürgerarchiv Weinfelden / Stadt Weinfelden

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