30. Juni 2021 – Viele Menschen haben in der Coronakrise ihre Quartiere erst so richtig als Lebensräume kennengelernt, und Leben und Arbeiten wird sich vermehrt «vor Ort» abspielen, was auch Folgen für die Mobilität haben wird. Daneben sind die Städte auch gefordert, sich auf ausserordentliche Ereignisse besser vorzubereiten.
Erich Fehr, Stadtpräsident von Biel
Das Wort «Pandemie» dürfte für die meisten Menschen vor Corona ein Fremdwort gewesen sein. Staat, Wirtschaft und Gesellschaft waren auf ein solches Ereignis faktisch nicht vorbereitet. Zwar kennt unser Land seit 1970 das Bundesgesetz über die Bekämpfung übertragbarer Krankheiten des Menschen, das sogenannte Epidemiengesetz, welches 2013 einer Totalrevision unterzogen wurde. Doch ich glaube, dass viele Menschen sich eine erneute weltumspannende Epidemie, wie sie 1918/19 mit der sogenannten Spanischen Grippe auch die Schweiz hart erfasste, bis vor kurzem gar nicht richtig vorstellen konnten. Das Thema war für die breite Öffentlichkeit kaum relevant und dürfte nur die Wissenschaft und, am Rand, Politik und Verwaltung beschäftigt haben.
Solidarische Gesellschaft: «Zäme geits»
Und da kam sie, die Pandemie, schleichend aus dem scheinbar fernen China, um plötzlich ganz schnell und mit voller Wucht auch bei uns einzutreffen. Wir haben mittlerweile rund 1,5 Jahren Erfahrung sammeln können, wie Politik und Gesellschaft auf die akute Bedrohung reagiert haben. Eines dürfte unbestritten sein: Corona hat uns als Individuen und als Gesellschaft verändert. Als Stadtpräsident habe ich dabei registriert, dass die Quartiere an Bedeutung gewonnen haben.
Bedingt durch den Lockdown haben die Menschen den Wert einer solidarischen Gesellschaft wiederentdeckt: so schnell wie das Virus da war, so schnell entstanden in den Quartieren lose Verbindungen hilfsbereiter Personen nach dem Motto: «Niemand darf jetzt vergessen werden, zäme geits!» Es hat mich beeindruckt, wie unsere Gesellschaft, vermeintlich ein Sammelsurium von Individualisten, buchstäblich von einem Tag auf den anderen zusammengestanden ist aus der Überzeugung heraus, dass gerade in Krisen das Miteinander greifen muss. Die Stadt Biel hat alles getan, um diese Initiativen zu unterstützen, um namentlich die Vernetzung sicherzustellen und damit die Selbsthilfe zu optimieren. Ich hoffe und bin überzeugt, dass diese Art der Vernetzung über Corona hinaus Bestand haben wird.
Die Bedürfnisse ändern sich
Aus dieser Optik heraus glaube ich, dass die Quartiere als umfassende Lebens- und Aufenthaltsräume neu entdeckt worden sind. Die Quartierstrasse, an der man wohnt, gewinnt eine neue Bedeutung, die Treffpunkte im Quartier – sei dies eine Wohnstrasse, eine schlichte Sitzbank oder eine Beiz – werden vermehrt aufgesucht und frequentiert. Ein Lokalkäse wird aufgetischt, und die kleinen lokalen Brauereien verzeichnen auch dank ihrer Innovationskraft zunehmenden Umsatz.
Auch die künftigen Formen der Arbeit dürften sich ändern. Die Erfahrungen rund um das Homeoffice haben gezeigt, dass Wohnen und Arbeiten am selben Ort vermehrt an Bedeutung gewinnen dürfte, was für die Stadtentwicklung Folgen haben wird. Die Stadt der Zukunft wird dezentraler sein, räumlich offener konzipiert und mit mehr Grün- und Freiflächen. Leben und Arbeiten werden sich vermehrt «vor Ort» abspielen, was sich auch auf die Mobilität auswirken wird.
Dies wiederum eröffnet neue Perspektiven der Architektur, indem etwa Erdgeschosse vermehrt zu eigentlichen Begegnungszonen mit gemischter Nutzung werden dürften. Generell glaube ich, dass das Lokale insgesamt verstärkt in den Mittelpunkt rücken wird. Darin sehe ich Chancen für innovative Unternehmen, in neue Formen des Konsums, des Arbeitens und Wohnens zu investieren. Natürlich wird dadurch der Mehrwert der weltweiten Arbeitsteilung nicht ausgehebelt (was im Interesse der weltweiten Arbeitsteilung auch nicht wünschbar wäre), doch gleichzeitig wird die Bedeutung des Lokalen zunehmen.
Der Zukunftsforscher Tristan Horx spricht in diesem Zusammenhang von einem Megatrend, der unumkehrbar sei. Für die Industrie bedeutet dies, auf schnell wechselnde Nachfragen und neue Herausforderungen zu reagieren. Gleichzeitig werden viele Unternehmen aufgrund der Risiken des globalen Handels darüber nachdenken, Lieferketten wieder mehr zu diversifizieren und die Produktion näher an den Märkten zu platzieren.
Die Corona-Pandemie hat uns aber auch drastisch vor Augen geführt, wie abhängig wir zwischenzeitlich von der Grossmacht China geworden sind, indem wichtige Einzelkomponenten für die weiterverarbeitende Industrie nur noch dort produziert werden. Diese Abhängigkeit ist meiner Auffassung nach gefährlich und schränkt die Handlungsmöglichkeiten der Industrie generell ein. Hier müssen wir wachsam bleiben und Gegensteuer geben.
Risiken reduzieren und Chancen nutzen
Corona war und bleibt für uns alle somit eine grosse Herausforderung. Die Pandemie hat Schwachstellen und Defizite offenbart, etwa bezüglich der bundesstaatlichen Zusammenarbeit oder der behördlichen Kommunikation namentlich zu Beginn der Krise. Und die wirtschafts- und finanzpolitischen Herausforderungen für Bund, Kantone und Städte infolge Corona sind immens und werden uns noch beschäftigen.
Es gilt nun, die Erfahrungen zu analysieren, um im Hinblick auf ähnliche epochale Herausforderungen inskünftig besser gewappnet zu sein – denn eines dürfte klar sein: es ist leider zu befürchten, dass uns nicht zuletzt aufgrund des globalisierten Reiseverhaltens und der weltweit abnehmenden Biodiversität Pandemien inskünftig vermehrt heimsuchen dürften.
Gleichzeitig plädiere ich dafür, die Chancen, die aus der «Zeit nach Corona» resultieren, zu sehen. Städte sind bekanntlich Hotspots gesellschaftlicher Entwicklungen. Daher sind sie prädestiniert, ja dazu aufgerufen, diesbezüglich genau hinzuschauen und mittels geschicktem Einbezug der Bevölkerung innovative Projekte zu fördern, die auch Bisheriges in Frage stellen mögen. Städte sind einem steten Wandel unterzogen und verändern sich per se – doch seit Corona geschieht dieser Prozess schneller und akzentuierter. Ich sehe darin in erster Linie eine Chance, die es mit allen betroffenen Akteurinnen und Akteuren aktiv zu packen gilt.
Quelle: Schweizerischer Städteverband
Foto: David Keller