Gerade geht ein Stück (Ost-)Schweizer Bahngeschichte zu Ende: Die ersten normalspurigen von Stadler gebauten Gelenktriebwagen GTW, Ende der 1990er-Jahre eine Innovation auf Schweizer Schienen und erstmals in der Ostschweiz für die Mittel-Thurgau-Bahn und schliesslich Thurbo aufgegleist, werden verschrottet.
Michael Mente
Es war ein Erdbeben in der politischen Landschaft des öffentlichen Verkehrs, als 1996 die Ostschweizer Privatbahn den Zuschlag für den Betrieb der Linie am Bodensee Schaffhausen–Kreuzlingen–Romanshorn–Rorschach erhalten hatte. Die SBB wollte sie aufgeben, die Mittel-Thurgau-Bahn witterte ihre Chance zur Expansion. Dies, nachdem sie bereits seit 1994 erfolgreich über sich und die Landesgrenzen hinausgewachsen war, indem sie Regionalverkehr von Konstanz bis Singen und Engen anbot.
Weinfelden war Ausgangspunkt für eine internationale S-Bahn-Strecke.
Stütze des Betriebskonzepts für die Seelinie, welches das Bundesamt für Verkehr überzeugt hatte, war ein leichtes, spurtstarkes und in der Anschaffung sowie im Unterhalt vergleichsweise günstiges Fahrzeug und die Bussnanger Firma Stadler lieferte die Idee dazu. So gehörte die Mittel-Thurgau-Bahn zu den ersten Bahnen, für die man die ersten normalspurigen, elektrischen Gelenktriebwagen dieser Art (nach einer Variante mit Dieselantrieb für den Betrieb in Deutschland) gebaut hatte. Auffälliges Merkmal dieser Fahrzeugfamilie, die im Folgenden über 20 Jahre erfolgreich weiterentwickelt und in die ganze Welt verkauft worden war, ist das zweiachsige Antriebsmodul. Dieses «Powerpack» enthält die elektrische oder dieselelektrische Antriebsausrüstung und ist in die feste Zugskomposition eingereiht. Die MThB erhielt 1997 bis 1998 zehn dieser RABe 526, in der Form angelehnt an das Aussehen der Fahrzeuge (NPZ), die man für den grenzüberschreitenden Verkehr angeschafft hatte, und vier Steuerwagen, die man zur Verstärkung einer Komposition beigeben konnte.
Es war eine Zeit des Aufbruchs. Im Jahr 2000 tauchte aber dann überraschend die Idee einer neuen Bahngesellschaft auf: SBB und MThB wollten ihren Regionalverkehr in der Ostschweiz in einer gemeinsamen Tochter – das Projekt hiess «Regionalbahn Ostschweiz RBO» – gemeinsam organisieren. Dies, nachdem sich die beiden Bahnen unterdessen auch im Güterverkehr erbitterten Wettbewerb geboten hatten. Doch dann wurde klar, dass es um die Finanzen der MThB schlecht bestellt war; die Bahn wurde 2002 liquidiert, der Weinfelder Hauptsitz geschlossen. Seit 2003 prangte auf den GTW und den übrigen Fahrzeugen der MThB das Logo der frisch gegründeten Thurbo AG. Ein Bahnunternehmen, das heute zu den grössten Eisenbahnverkehrsunternehmen der Schweiz gehört und erfolgreich die Ostschweiz mit ihren Fahrzeugen – GTW in verschiedenen Ausführungen – bedient.
Nun hat die erste und in der Flotte zu Exoten verkommene Generation ausgedient. Langlebigkeit war für diese als «Blueme-Chischtli» und «Seegurken» bezeichneten Fahrzeuge, die auch auf der MThB-Stammstrecke anzutreffen waren, nicht vorgesehen; das ist bei den Nachfolgemodellen, die SBB-Tochter Thurbo heute in grosser Stückzahl im Einsatz hat, nicht anders. 25, statt der bis damals üblichen 40 Jahre sollten es sein. Als Ersatz erhält Thurbo 13 moderne GTW, welche die SBB von den BLS übernommen hatte.
Und man blickt bereits in die Zukunft: Im Mai 2020 schrieben SBB, Thurbo und RegionAlps die Bestellung von 194 einstöckigen S-Bahn-Triebzügen aus, die ab 2026 abgeliefert werden sollen. 70 davon sollen an Thurbo gehen und einen Grossteil der Flotte ersetzen.
Von der Öffentlichkeit fast nicht bemerkt traten nun am 22. April 2021 mit der Nummer 526 680 ein erster Triebzug und Verstärkungssteuerwagen (Bt 222) von der Ostschweiz ihre letzte Reise nach Luzern an, wo sie in Emmen bei Loacker Swiss Recycling AG abgebrochen werden. Eine nächste Komposition ist in Kaiseraugst bei Thommen AG angemeldet.
Einige Triebfahrzeuge verdienen bis Ende April im Toggenburg noch ihr Gnadenbrot, die Steuerwagen sind bereits abgestellt. Ob ein Fahrzeug der Nachwelt und damit als Erinnerung an die MThB erhalten bleibt, ist zum Zeitpunkt nicht bekannt.
Trivia – Flotte der Gelenktriebwagen GTW, nach dem Abgang der Seelinien-GTW bei Thurbo im Einsatz:
- GTW 2/6 AK 526 701 bis 751 (ohne 709 bis 718, neu – verlängert – 781 bis 790): 41 Fahrzeuge
- GTW 2/8 AKL 526 752 bis 805 (781 bis 790 ex GTW 2/6): 54 Fahrzeuge
- GTW 2/8 AJU 526 260 bis 265 (verlängert aus GTW 2/6) und 280 bis 286: 13 Fahrzeuge (ex BLS)
- GTW 2/8 520 000 und 016: 2 Fahrzeuge (schmale Ausführungen, Seetal)
Fotos aus der MThB-Zeit (Oktober 2001). Christian Ammann, Frauenfeld
Überführung des ersten Seelinie-GTW zum Abbruch nach Luzern/Emmenbrücke vom 22.4.2021. Das Bild zeigt die Abbruchkandidaten, eingerahmt von zwei roten SBB-Maschinen, am Sempachersee zwischen Nottwil und Sempach. Da die GTW-Fahrzeuge nicht mehr über intakte Bremsen aufwiesen, musste zu diesem Grund noch zusätzliches Rollmaterial als Bremswagen dem Zug mitgegeben werden.