«Fundstücke aus der Weinfelder Geschichte und Kultur» - Nr. 5
Mitten in der Corona-Krise diskutiert der Grosse Rat – er tagt Corona-bedingt nicht in einem seiner beiden sonst üblichen Home-Offices, sondern in der Frauenfelder Rüegerholzhalle – im Frühjahr 2021 eine Frage, die an einer Besonderheit unseres Kantons – und Weinfeldens – rührt. Einige Exponenten fordern über eine Motion einen festen Saal für das Kantonsparlament. Die dahinterstehende Tradition, die Weinfelden mit Frauenfeld auf besondere Weise verbindet, und die Geschichte dahinter könnte uns an verschiedene Orte führen – das heutige Fundstück aber befindet sich in Frauenfeld.
Michael Mente
Ist Ihnen aufgefallen, dass Frauenfeld keine Weinfelderstrasse hat, aber Weinfelden aus seiner einstigen «Hauptgasse – ausgerechnet – eine «Frauenfelderstrasse» gemacht hat? In Frauenfeld gibt es dafür etwas anderes: Das Fundstück von heute führt für einmal von Weinfelden weg, in die «Zürcherstrasse», die eben geradesogut «Weinfelderstrasse» heissen könnte, genauer zur Nr. 208. Dort steht der «Weinfelder Brunnen».
An dieser Stelle keine weiteren Ausführungen über die alten Sticheleien und vermeintlichen oder tatsächlichen Rivalitäten zwischen den beiden Städten. Ein Quell’ von Anekdoten, doch der Brunnen erinnert an die Geschichte und ist eine historische und symbolische Geste. Er wurde 2003 getauft und erinnert zum 200-jährigen Jubiläum, nicht nur von Stadt und Hauptstadt, daran, dass die Kantonsgründung 1803 ihren Ursprung eben in Weinfelden hatte.
Mit der Helvetik, also in der kurzen, aber für uns entscheidenden Zeit unter den revolutionären Franzosen war Frauenfeld, bisher Sitz des Landvogts und zeitweise Tagungsort der Eidgenossenschaft, Hauptort des am 2. März 1798 aus der Gemeinen Herrschaft der acht alten Orte entlassenen Kantons. Weinfelden, damals noch der grösste Ort im Kantonsgebiet, Sitzungsort der Gerichtsherrschaften, mit seinem «Rütli» vor dem «Trauben», wo unter Paul Reinhart jene Freiheit ihren Anfang nahm, ging dabei leer aus.
Napoleon, der heuer übrigens vor 200 Jahren verstorben war, war es 1803 vermutlich egal, für welchen der beiden Ortschaften man sich als Hauptstadt (nicht mehr «-ort») entschieden hatte. Aber so wirklich klar war es eben doch nie. Bis heute nicht.
«Zwei Hauptstädte wohnen, ach! in meiner Brust», so könnte man in Anlehnung an Goethe und nicht ganz ernst gemeint formulieren: Bis heute wird Weinfelden immer wieder als «heimliche» Hauptstadt bezeichnet und ist es ein Stück weit auch offiziell geworden, nicht nur, weil sich mit der Zeit immer mehr Ämter und etwa das Verwaltungsgericht hier angesiedelt haben. Im Sinne eines historischen Ausgleichs tagt das Kantonsparlament seit 1832 im Sommer (April bis September) in Frauenfeld und ist im Winterhalbjahr (Oktober bis März) im Weinfelder Rathaus zu Gast. Die Corona-Krise hat diesen Rhythmus unterbrochen. Und plötzlich wird die Frage gestellt: Braucht das Parlament nicht doch einen eigenen Sitz? Immerhin, die Motion klingt versöhnlich: Der Sitzungsort kann «Weinfelden oder Frauenfeld» sein.
Bemerkenswerter Punkt also bei einer Frage, die sonst doch ziemlich an einer Thurgauer Besonderheit rührt und auch in der Kantonsverfassung (§ 33) festgeschrieben ist. Es gibt wohl nicht viele Pendelregierungen auf dieser Welt.
Natürlich kosten zwei Ratshäuser Miete, die Motionäre gemahnen aber auch an eine moderne Infrastruktur, wie die elektronische Stimmenauszählung, oder daran, dass die Öffentlichkeit an den Sitzungen beiwohnen können soll. Aber Identität, Konsens und Ausgleich sind eben auch nicht zu unterschätzende Werte – und das in einem Kanton, der gerade nicht auf Zentren und mit dem immer wieder zitierten «Thurgauer Weg» auf das «man kennt sich», kurze Wege und Nahbarkeit zählt. Repräsentativität ist in unserem eher bescheidenen Staatswesen doch eher der Bescheidenheit untergeordnet. Entsprechend dürftig ist die Unterstützung für die Motion. Ein weiteres Kapitel in der wechselvollen Geschichte unseres Kantons mit seinen zwei Hauptorten und einem Pendlerparlament. Der Brunnen mit seiner schon etwas ramponierten Widmungstafel plätschert derweil bescheiden weiter.
16.03.2021
Michael Mente – ist Historiker, Archivar, Autor verschiedener Bücher und Beiträge und arbeitet derzeit in der Denkmalpflege des Kantons Thurgau. Er ist in Weinfelden aufgewachsen und schreibt für den Wyfelder seit Start. In der Reihe «Fundstücke aus der Weinfelder Geschichte und Kultur» erzählt er uns zudem in loser Reihenfolge durch «sein» Weinfelden spazierend von unserem Städtchen.
2 Kommentare zu „2 Hauptstädte und ein Brunnen“
Gut zu wissen, dass der vorgestellte Brunnen an die Kantonsgründung 1803 erinnert. Mein Onkel möchte eines Tages einen eigenen Brunnen bauen lassen. Er hofft, dass der Brunnen auch ein Zeichen für ein Jubiläum sein wird, nämlich fürs Jubiläum von ihm und seiner Frau.
Ich finde es interessant, dass der vorgestellte Brunnen an das 200-jährige Jubiläum von Frauenfeld erinnert. Mein Onkel möchte auch in seiner Stadt einen Brunnen errichten lassen. Er wartet nun darauf, dass seine Stadt mindestens 100 Jahre alt wird, um ein richtiges Jubiläum mit dem Brunnenbau feiern zu können.